Es ist uns aufgegeben, zu arbeiten, unsere Begabungen und Fertigkeiten anzuwenden, unsere Energien in den Dienst des Lebens zu stellen. Unser Wesen ist kreativ. Indem wir ihm Ausdruck verleihen, erzeugen wir beständig mehr Begeisterung und schöpferische Kraft und regen damit eine unaufhaltsame Welle der Freude an, die unsere Umwelt durchdringt. Wir leisten unseren Beitrag zum Leben, wenn wir bereitwillig arbeiten, begeisterungsfähig und mit dem vollen Einsatz unserer Kräfte.
So zu arbeiten heisst: Die innere Kunst der Arbeit zu beherrschen.

Die innere Kunst der Arbeit

Bewusstheit, Wandlung und Teilhaben:
Sanfte Wege zum Erfolg

Tarthang Tulku Rinpoche

 

Immer mehr Menschen sehen in der Arbeit keinen Sinn. Es herrscht allgemeine Un-zufriedenheit, die keineswegs nur auf einzelne Berufe, Lebensläufe oder Weltanschauungen beschränkt bleibt, sondern wie ein schleichendes Gift jede Form von Arbeit durchsetzt.

Dies ist ein grosses Unglück, weil wir beim Arbeiten wirksam lernen können, ein in tieferem Sinn befriedigendes Leben zu führen. Arbeit kann eine Quelle des Wachstums sein, eine Gelegenheit, mehr über uns selbst zu erfahren und positive, gesunde Beziehungen mit anderen einzugehen. Sobald wir unsere Arbeit unter diesem Gesichtspunkt betrachten, erkennen wir, dass wir unser Leben automatisch bewusster und mit mehr Verständnis geniessen, wenn wir unsere Arbeit beherzt und umsichtig in Angriff nehmen. Dann nämlich sind Arbeit und Stärkung der Bewusstheit ein und dasselbe.

Allerdings ist es nicht immer einfach, den richtigen Zugang zur Arbeit zu finden, damit sie uns tatsächlich den Weg zu einem erfreulichen Dasein ebnen kann.

Die innere Kunst der Arbeit behandelt typische Situationen, denen wir bei der Arbeit und im Alltag begegnen, also Denk- und Handlungsgewohn-heiten, die uns häufig daran hindern, unsere Ziele zu verwirklichen und ein sinnerfülltes Leben zu führen.

Wir stehen vor einer der schwierigsten Lehr- und Lernaufgaben, wenn wir Verhaltensmuster aufweichen wollen, die sich bereits früh im Leben verfestigt haben. Wir meinen oft, dass wir nicht mehr in der Lage sind, Angewohnheiten zu verändern, denen wir ein ganzes Leben gefolgt sind, und deswegen fühlen wir uns in gewisser Hinsicht in unserer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Aber die Leistungsfähigkeit hat eigentlich keine Grenzen des Erreichbaren, wenn wir tatsächlich alle Gelegenheiten wahrnehmen und würdigen, die das Leben uns bietet. Wir können die selbstauferlegten Beschränkungen durch-brechen, uns grundlegend wandeln und neue Fähigkeiten an uns entdecken, von denen wir bisher nichts wussten. Noch wichtiger: wir können unsere wahren Begabungen erkennen.

Während der letzten dreissig Jahre hatte ich die Möglichkeit, die verschiedensten Arbeitsweisen und -stile kennenzulernen, denn ich habe in dieser Zeit sowohl im Orient wie im Westen gelebt. Nachdem ich Tibet 1959 verlassen hatte, lehrte und arbeitete ich zehn Jahre in Indien. Dann siedelte ich in die Vereinigten Staaten über. Seit 1969 arbeite ich nun tagein, tagaus mit Amerikanern ganz unterschiedlicher Herkunft und aus den ver-schiedensten Berufen zusammen. Wir lehren, verwalten, beraten, bauen, stellen Bücher her, verwirklichen künstlerische Projekte und kümmern uns gemeinsam um die Leitung unserer Aufgaben.

Wenn wir die innere Kunst der Arbeit meistern, gehen wir unsere Arbeit direkt an, handeln unverzüglich, sobald ein Problem auftaucht, und befreien die Kraft unserer natürlichen Fähigkeiten. Jeder von uns hat dieses Potential.

Wir leben in einer schwierigen Zeit. Es ist heutzutage nicht leicht, einen Sinn in all den Geschehnissen und Dingen zu entdecken, mit denen wir konfrontiert sind. Viele Menschen suchen deshalb nach einem Weg, in ihrer Arbeit und ihrem Leben mehr Erfüllung zu finden: so zu leben, dass das Leben seine Bedeutung und seinen tieferen Sinn bekommt.

Jedes Lebewesen im Universum offenbart seine ganz spezifische Eigenart, indem es lebt und darin, wie es lebt. Arbeit ist die natürliche Antwort des Menschen auf das Leben: Mit unserer Arbeit nehmen wir aktiv am Geschehen des Universums teil. Die Arbeit erlaubt uns, unsere Möglichkeiten auszuschöpfen. Sie gibt uns die Gelegenheit, dass wir uns dem unendlichen Reich der Erfahrung öffnen, welches selbst der banalsten Tätigkeit innewohnt. Unsere Arbeit lehrt uns den sinnvollen Einsatz unserer Energie, so dass alle unsere Handlungen fruchtbar und gehaltvoll werden.

Es entspricht unserem ureigentlichen menschlichen Wesen, befriedigt und erfüllt zu sein. Diese Befriedigung können wir uns in der Arbeit erschliessen, denn Arbeit lässt uns die echten und heilsamen Seiten unseres Lebens entwickeln. Beim Arbeiten bringen wir unser gesamtes Sein zum Ausdruck. Sie ist gleichzeitig Chance und Werkzeug, in uns selbst wie auf der Welt Gleichgewicht und Harmonie zu erschaffen. Beim Arbeiten führen wir dem Leben unsere Energie zu, weil wir dabei Körper, Atem und Geist in schöpferischer Tätigkeit einsetzen. Wir erfüllen die natürliche Rolle, die uns das Leben zugedacht hat, wenn wir unsere schöpferischen Kräfte spielen lassen, und inspirieren so alle Wesen, mit der Freude lebenssprühenden Teilnehmens.

In unserer komplizierten Industriegesellschaft wissen wir nicht mehr so recht, wie wir unsere Fähigkeiten einsetzen müssen, damit wir uns eines fruchtbaren und sinnerfüllten Lebens erfreuen können. Wir haben dies vergessen, weil wir den Kontakt zu dem entsprechenden Wissen verloren haben. In der Vergangenheit spielten Erziehung und Bildung eine grosse Rolle bei der Weitergabe des notwendigen Wissens über die Vereinigung von Lernen und Erfahren. Heute wird dieses entscheidende Wissen, das unser inneres Wesen auf der Ebene des praktischen Lebens gestaltet, nicht mehr weitergegeben.

Deswegen haben wir im allgemeinen eine sehr beschränkte Vorstellung von der Arbeit und erfahren nur selten die tiefe Befriedigung, die zweckdienlichem und gesundem Arbeiten - dem Einsatz unseres gesamten Seins - entspringt.

Das Leben fordert einen Preis, wenn wir uns nicht total hineingeben, nicht wirklich teilnehmen. Wir verlieren den Kontakt zu all jenen menschlichen Werten, die uns ganz natürlich zufliessen und vertraut bleiben, sobald wir uns uneingeschränkt in unserer Arbeit engagieren: Integrität, Ehrlichkeit, Treue, Verantwortungs-gefühl und Kooperations-bereitschaft.

Diese Qualitäten können unserem Leben Halt und Orientierung geben. Ohne sie fangen wir an zu wanken, treiben dahin, sind leichte Beute für das unbehagliche Lebensgefühl permanenter Unzufriedenheit. Wissen wir nicht mehr, wie wir durch sinnvolles Arbeiten festen Boden finden können, werden wir auch nicht mehr begreifen, wo wir uns hinwenden können, um den Wert des Lebens zu verstehen.

Machen wir uns ernsthaft und energisch daran, eine bessere Einstellung zu unserer Arbeit zu gewinnen. Entwickeln wir alle echten Werte in uns. Dann wird das Leben zu einem Freudenfest. Die beim Arbeiten erworbenen Fertigkeiten werden unser Wachstum massgeblich mitbestimmen und uns die Mittel in die Hand geben, jeden Augenblick unseres Lebens mit Sinn und Zufriedenheit zu erfüllen - ein Geschenk, das wir automatisch an andere weitergeben.

So zu arbeiten heisst: die Arbeit zur inneren Kunst zu entwickeln.

Die innere Kunst der Arbeit ist ein Prozess in drei Schritten. Wir können ihn in jeder Lebenslage und in jeder Situation anwenden. Der erste Schritt besteht darin, dass wir uns eingestehen, wie real unsere Schwierigkeiten tatsächlich sind, und zwar nicht bloss rein intellektuell mit einem unver-bindlichen Lippenbekenntnis, sondern durch ehrliche Selbstbeobachtung und -prüfung. Nur dadurch werden wir uns zum zweiten Schritt aufraffen können: dem festen Entschluss, uns zu ändern. Haben wir den eigentlichen Kern unserer Probleme durchschaut und begonnen, sie zu beseitigen, können wir das Gelernte mit anderen teilen. Dieses Teilen und Mitteilen kann ein sehr erfüllendes Erlebnis sein, vielleicht das erfüllendste überhaupt.

Sobald wir unsere Begabungen entwickeln und mit anderen teilen, können wir ihren Wert in tieferem Sinne wahrnehmen und würdigen. Diese tiefe Wertschätzung macht das Leben eigentlich erst lebenswert. Sie trägt Liebe und Glück in all unser Tun, in all unsere Erfahrungen hinein. Indem wir lernen, bei allem, was wir tun, mit jener besonderen inneren Kunst vorzugehen, können wir unser Alltagsleben in eine Quelle der Freude verwandeln, die selbst unsere kühnsten Träume noch in den Schatten stellt.
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Auszüge aus dem Buch:
Die innere Kunst der Arbeit;
Bewusstheit, Wandel und Teilhaben: Sanfte Wege zum Erfolg
Tarthang Tulku, Heyne Verlag
Titel der Originalausgabe: "SKILLFUL MEANS"

 

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