"Ich lehre euch nicht das Geben, sondern das Empfangen; nicht die Verweigerung, sondern die Erfüllung; und nicht den Gewinn, sondern das Verstehen mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich lehre euch nicht die Stille, sondern ein sanftes Lied. Ich lehre euch euer größtes Selbst, das alle Menschen in sich tragen." *

Die Schöpfung
Khalil Gibran

Gott trennte einen Teil seines Wesens von sich ab, stattete die neue Schöpfung mit Schönheit aus und segnete sie mit Güte und Freundlichkeit.

Dann reichte er ihr den Kelch der Glückseligkeit und sprach: "Trinke aus diesem Kelch nur dann, wenn du Vergangenheit und Zukunft vergessen hast, denn das Glück ist ein Produkt des Augenblicks."

Und er reichte ihr den Kelch der Trauer und sprach: "Wenn du aus diesem Kelch trinkst, wirst du begreifen, warum die Freuden des Lebens so schnell vergehen, die Trauer jedoch im Überfluß vorhanden ist."

Und Gott verlieh ihr die Liebe, die sie beim ersten Seufzer der Zufriedenheit für immer verlassen würde, und er schenkte ihr die Anmut, die beim geringsten Anzeichen von Schmeichelei schwinden sollte.

Er schenkte ihr die Weisheit des Himmels, um sie auf den rechten Weg zu führen, und in die Tiefe ihres Herzens setzte er ein Auge, um es ihr zu ermöglichen, auch das Unsichtbare zu sehen; und er weckte in ihr eine leidenschaftliche Hingabe an alle Dinge.

Er kleidete sie in das Gewand der Hoffnung, das die Engel aus den Streifen des Regenbogens gefertigt hatten; und er hüllte sie in den dunklen Mantel der Verwirrung, der den Dämmerzustand des Lebens und des Lichtes hervorruft.

Dann nahm Gott das verzehrende Feuer aus dem Schmelzofen des Zorns, den sengenden Wind aus der Wüste der Unwissenheit, rauhen Sand von der Küste der Selbstsucht und grobe Erde, die unter dem Fuß der Zeit lag - all dies mengte er zusammen und erschuf den Menschen.

Er verlieh ihm eine blinde Kraft, die wütet und in den Wahnsinn treibt und erst nach der Erfüllung eines Wunsches erlischt. Und er erweckte das Leben im Menschen mit der Vielfalt des Todes.

Und Gott lächelte und weinte. Er fühlte eine überströmende Liebe für den Menschen und gleichzeitiges Erbarmen - und deshalb stellte er ihn unter seinen Schutz.

 

* Diese Worte Kahlil Gibrans, die er in seinem Buch "Im Garten des Propheten" seiner berühmt gewordenen Gestalt Almustafa in den Mund legt, können als Quintessenz der Weltauffassung des libanesischen Dichters gelten. Auch in "Gib mir die Flöte..." , das Gibrans gesammelte arabische Schriften vorstellt, kommt dieser selbsterwählte Auftrag beinahe in jeder Erzählung zum Tragen.

Aus dem Vorwort des Übersetzers
Hans Christian Meiser

aus:
"Gib mir die Flöte und laß mich singen!"
vom Autor des Klassikers "Der Prophet"
mit bisher unveröffentlichten Texten
Wilhelm Heyne Verlag

 

 

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